
Biographie
Ihre Welt sind die Orgeln eines Arp Schnitger, Silbermann, Stellwagen, Scherer, um nur einige bedeutende Orgelbauer in Europa zu nennen: Dagmar Lübking ist eine in ganz Europa gefragte Organistin. Ob beim Cantiere-Festival Montepulciano, an der Orgel der Kirche Sweelincks in Amsterdam oder im hohen Norden an den Orgeln der alten Hansestädte, immer wieder wird die Korrespondenz zwischen den Werken und den Instrumenten in ihrem Spiel gelobt.
Ihr bevorzugtes Repertoire erstreckt sich über drei Jahrhunderte, also von Werken des 16. Jahrhundert bis in die Frühklassik.
Als klingende Zeugnisse ihres Spiels können CD-Produktionen an bedeutenden Orgeln gelten. So wurde z.B. ihre Aufnahme an ihrer Heimatorgel, gebaut von Jürgen Ahrend, mit Werken von Weckmann, Strungk, Tunder und Bach, von der Fachpresse mit folgenden Worten belohnt:
“Die vorliegende CD stellt schon ein kleines Wunder dar, dank des Instruments (…) und im Besonderen dank des hinreißenden Spiels von Dagmar Lübking.“ (Concerto 2005)
An einer der interessantesten Orgeln Nordeuropas – der Scherer-Bünting-Orgel zu Mölln – spielte Dagmar Lübking nach einer aufsehenerregenden Restaurierung durch die Firma Flentrop 2024 bei dem Label Es-Dur eine von der Kritik mit Begeisterung aufgenommene CD ein.
Als Continuospielerin an ihrer Truhenorgel arbeitet sie mit bedeutenden Musikern und Ensembles zusammen.
Schon als Studentin der Kirchenmusik in Frankfurt, anschließend als Schülerin von Michael Radulescu in Wien, später als Lehrende an der Kirchenmusikschule und der Musikhochschule Frankfurt am Main galt ihr Hauptinteresse den Fragen der Klangidentität eines Werkes in seinem historischen Umfeld, unterstützt durch das vorangegangene Studium der Musikwissenschaft und Altphilologie, welches den Blick für das Lesen aller Notationen schärfte.
Ihre enge Verbundenheit mit bedeutenden Orgelbauern unserer Zeit hat einen andauernden Dialog hervorgebracht, der ein Wechselspiel von Orgelbau und Idiomatik begünstigt.

Audio & Video
Pilsum. Das zweite Konzert des Krummhörner Orgelfrühlings fand in der Kreuzkirche zu Pilsum statt. Dort spielte die Hamburger Organistin Dagmar Lübking die Orgel von Valentin Ulrich Grotian aus dem Jahr 1694. Dabei zeigte Lübking die ganze Bandbreite dessen, was die große Orgel mit ihren 20 Registern auf zwei Manualen, dem Haupt-, dem Brustwerk und dem angehängten Pedal zu leisten imstande ist. Sie wählte dabei geistliche wie weltliche Musik, einmal ging es gar in den höfischen Bereich.
Das bekannte Lied „Innsbruck ich muss dich lassen“ zur klangvollen Musik von Heinrich Isaac fand ebenso Aufnahme in das Programm wie die gemessen und behutsam sich entwickelnden Variationen über „Nun lob, mein Seel, den Herren“ von Michael Praetorius oder der stark rhythmisierte Tanz „Lo ballo dell Intorcia“ von Antonio Valente.
Mit dem zauberhaften „Capriccio sopra il Cucu“ von Johann Kaspar Kerll eröffnete Lübking die Schlussphase ihres Konzertes. Ein leichtes Raunen ging dabei durch das Publikum, das das unvermutet auftauchende fröhliche „Kuckuck“ in einem Konzert für Alte Musik wohl gar nicht erwartet hatte. Natürlich durfte das Schwergewicht der Musik nicht fehlen. Von Johann Sebastian Bach hatte Dagmar Lübking zwei Werke ausgewählt: die Fantasie in a (BWV 904), deren Schwierigkeitsgrad als „schwer“ klassifiziert wird und die Lübking mit feiner Noblesse spielte. Das zweite Werk war das Adagio aus dem Concerto in D-moll, ein traumverloren schönes Stück, das abgelöst wurde durch eine tänzelnde Ciaconna in G von Jean Baptiste Lully – Musik aus einer Barockoper. Dagmar Lübking ließ an diesem Abend die Orgel singen und klingen. Sie bot dem Instrument luftige Freiräume und meditative Stille. Sie lotete die emotionalen Tiefen aus und berücksichtigte auch die Momente von Klage und Lobpreis. So entstand ein musikalischer Kosmos voller Schönheit und fein abgestimmter Gefühlslagen – immerhin befinden wir uns immer noch in der 50-tägigen Osterzeit, die diese Vielfalt an Emotionen zulässt. Und so war es ein sanftes „Stück zur Nacht“, das diesen Abend mit Zartheit beendete.
Kultur in Emden, 8. Mai 2025 wag
Hamburger Organistin widmet sich ganz der alten Musik
Ausschließlich Musik des Barock, von Hans Leo Haßler bis Johann Sebastian Bach bestimmte das Orgelkonzert von Dagmar Lübking in der Konstantin-Basilika. Ein Programm, das der Orgel geradezu auf den Leib geschnitten war.
Manchmal erlebt man Konzerte, da sehnt man sich danach, dass endlich das Ende kommt. Man langweilt sich, es geschieht nichts, das auch nur ein wenig die Aufmerksamkeit erregt. Es gibt aber auch die Konzerte, bei denen man bedauert, dass es schon vorbei ist, wo man unwillkürlich an das viel geschundene Zitat “Verweile doch, Du bist so schön!” aus Goethes Faust denken muss. Dagmar Lübking, Organistin der evangelisch-reformierten Kirche in Hamburg und Solistin beim siebten sommerlichen Orgelkonzert in der Konstantin-Basilika in Trier schaffte es, diesen Wunsch hervor zu rufen. Ihr Abend war fast eine Ouvertüre zur langen Nacht der Alten Musik, die am heutigen Freitag ebenfalls in der Konstantin-Basilika über die Bühne geht. Johann Sebastian Bach war der jüngste Komponist, der sich auf Lübkings Programm fand.
War es mutig? War es frech, was die Hamburger Kantorin ihrem Publikum anbot? Viele Dogmatiker der so genannten authentischen Spielweise hätten Lübking nach diesem Konzert auf den Scheiterhaufen geführt und sie im Namen der historischen Aufführungspraxis durch die Flammen läutern lassen. Wie kann man das “Alleluja, laudem dicite” von Hans Leo Haßler oder die Bachsche Fantasie c-Moll, BWV 1121, mit den spanischen Trompeten spielen? Man kann! Und wenn man es so spielt, wie Lübking, klingt es großartig. Es war ein Nutzen der klanglichen Möglichkeiten der Schuke-Orgel, die sich rundherum wohlfühlte, ja förmlich aufblühte. Lübking hatte ihr das Programm förmlich auf den Leib geschneidert. Bei Matthias Weckmanns Toccata in d oder bei Dietrich Buxtehudes Praeludium in g, BuxWV 163, musste man sich schon vergewissern, ob man wirklich die Basilika-Orgel hört, so charmant norddeutsch erfüllten die Klänge den Raum. Bachs Choralvorspiel “Erbarm dich mein”, BWV 721, vereinigte durch Registerwahl und Spielweise in großartiger Form Verzweiflung und Zuversicht des Choralinhaltes. Vielleicht das schönste Stück des Abends.
Was Lübking bot, war ein selbstbewußtes Konzert, bar jeder Effekthascherei, die ihrer Person gedient hätte. Kaum jemand würde es wagen, ein Konzertfinale (Bachs Fantasie G-Dur, BWV 572) im Mezzoforte zu beschließen. Lübking konnte es und blieb damit sich selbst und der Musik treu. Das Publikum hatte es verstanden und dankte ihr mit langem und kräftigem Applaus. Darin enthalten die Feststellung: Schade, daß es schon vorbei ist.
Trierer Volksfreund, 17. August 2007 // Gerhard W. Kluth
Gedanken zu einigen aktuellen CD-Einspielungen Bachscher Orgelwerke
Dass auch diejenigen Organisten bzw. Organistinnen, die nicht zu den Stars am Orgelhimmel gehören, mit bemerkenswerten Bacheinspielungen aufwarten können, zeigt Dagmar Lübking mit ihrer Aufnahme. Sie hat sowohl Kirchenmusik und Orgel wie auch Musikwissenschaft studiert und verfügt somit über das notwendige Rüstzeug für eine fundierte Interpretation.
Die auffallenden Merkmal ihres Musizierstils stellen gemäßigte Tempi und das bewußt eingesetzte Mittel der musikalischen Deklamation dar, die in der Dosierung zum Teil an die Grenzen des Möglichen stößt. Das betrifft im besonderem Maße die Wechsel zwischen Solo- und Tutti-Passagen in Vivaldis Concerto BWV 593.
Auf einige Besonderheiten ihres Spiels der Partita Sei gegrüßet, Jesu gütig sei hingewiesen. Den eröffnenden Choral bringt sie in einer Principalmischung in Manual und Pedal zu Gehör, wobei das Pedal zusätzlich durch Fagott 16´ (vielleicht unbeabsichtigte) Vordergründigkeit erhält.
Dagmar Lübking stellt die einzelnen nachfolgenden Variationen unter einen großen Bogen hinsichtlich der Temporelationen. So besitzen die Manualiter-Versionen insgesamt das gleiche Grundtempo. Damit erhält das oft im Prestissimo zu hörende Bicinium (Variation III) eine wohltuende innere Ruhe und melodische Ausstrahlung.
Variation VI erklingt im französischen Gusto mit verkürzten Notenwerten in den Auftakten (abweichend von der Notation). Mit einer markigen Registrierung trägt sie die im Stil einer Sarabande gehaltene vorletzte Variation vor. Sie wird damit der majestätischen Satzstruktur durchaus gerecht.
Ars Organi, März 2000 // Felix Friedrich
Daß sich Hamburgs Reichtum an hörenswerten Orgeln nicht auf die Hauptkirchen beschränkt, bestätigt ein kürzlich erschienenes Tondokument aus der evangelisch-reformierten Kirche in der Palmaille. 1969 von der Firma Ahrend und Brunzema erbaut – Jürgen Ahrend empfing dieses Jahr den Buxtehude-Preis der Stadt Lübeck-, stehen Pfeifenwerk und Mechanik im Einklang mit der Tradition der “norddeutschen Orgelschule” des 17. und frühen 18. Jahrhunderts.
1998 wurde das Instrument zum künstlerischen Kraftwerk der Organistin und Cembalistin Dagmar Lübking. Dem Charakter der Orgel entsprechend wählte die Virtuosin, die unter anderem bei den Koryphäen Daniel Chorzempa in Basel und Michael Radulescu in Wien studierte, ihr CD-Repertoire – beginnend mit einem Praeludium und einer Canzona von Franz Tunder, dem Amtsvorgänger Dietrich Buxtehudes an der doppelt getürmten Kirche der Lübecker Kaufmannschaft, St. Marien.
Tunder war Trauzeuge des Hamburger Jacobi-Organisten Matthias Weckmann, den Dagmar Lübking anschließend mit zwei Orgelkompositionen vorstellt. Der Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz hatte seinen Chorknaben, als er in den Stimmbruch kam, stromabwärts nach Hamburg geschickt: in die Lehre des Petri-Organisten Jacob Praetorius aus der Schule des Amsterdamer “Organistenmachers” Jan Pieterszoon Sweelinck.
In der Hansestadt traf Weckmann auf einen zweiten Sweelinck-Schüler, den Catharinen-Organisten Heinrich Scheidemann – eine Begegnung, die den Hamburger Musikschriftsteller Johann Mattheson in seiner “Ehrenpforte” zu der Bemerkung hinriss, sie habe Weckmann “Anlass” gegeben, “die prätorianische Ernsthaftigkeit mit einer scheidemannschen Lieblichkeit zu mäßigen”.
Wie recht der Musikkritiker mit dieser Einschätzung hatte, führt Dagmar Lübkings Interpretation der “Toccata in d” und des Orgelchorals “Ach wir armen Sünder” von Matthias Weckmann bezwingend vor Ohren. Respekt vor der Meisterschaft der norddeutschen Orgelkomponisten jener Zeit lehrt auch ein “Magnificat noni toni” des Braunschweiger Marienorganisten Delphin Strungk.
Zu guter Letzt nimmt sich Dagmar Lübking – barocker Gepflogenheit folgend – die Freiheit, eine Violinsonate und eine Kantatenarie Johann Sebastians Bachs auf “ihre” Orgel zu übertragen. Wem sich bei diesem Gedanken die Nackenhaare sträuben, der höre erst einmal hin: Hauptwerk, Brustwerk und Pedal der Ahrend-Orgel bieten ideale Lebensbedingungen für Bachs generalbass-fundierte Kontrapunktik. Natürlich enthält die CD auch Orgelmusik von Bach pur: eine Toccata sowie Präludium und Fuge in d-Moll. Letztere modellierte Bach übrigens nach einer Geigen-Fuge.
DIE WELT, Freitag, 13.Juli 2007 // Lutz Lessle
Weckmann, Strungk, Tunder, Bach. Choralbearbeitungen und freie Orgelwerke. Dagmar Lübking (Ahrend-Brunzema-Orgel der ev.-ref. Kirche Hamburg, Palmaille. Tonstudio Es-Dur, DL 2003)
Die vorliegende CD stellt schon ein kleines Wunder dar, dank des Instruments der Firma Ahrend und Brunzema aus dem Jahr 1969 und im Besonderen dank des hinreißenden Spiels von Dagmar Lübking. An der Orgel findet sich eine keineswegs außergewöhnliche Dispostion, doch was der Intonateur an den nur 15 Registern vollbrachte, macht das Instrument so wunderbar geeignet für die barocke Literatur.
Selten genug findet man so differenziert zeichnende Register, die einzeln verwendet einen persönlichen Charakter aufzeigen, sich aber auch im vollen Werk harmonisch einfügen. Denn Lübking artikuliert sehr deutlich, spielt durchsichtig, findet immerzu ein neu zusammengestelltes farbenprächtiges Plenum, das angenehm zu hören ist und das Ohr zu keiner Zeit ermüdet; sie interpretiert mitreißend, so voller Leben, spielt tief bewegend und berührt die Seele; jeder verklingende Ton macht neugierig auf den folgenden.
Die ausgewählten Komponisten gehören zu den Klassikern der Orgelliteratur; neben der norddeutschen Tradition eines Tunder und Strungk stehen Bach und Weckmann. Es finden sich bekannte Orgelwerke aber auch Orgel-Adaptionen Bach´scher Kammermusik (z.B. die Clavier-Toccata BWV 916 oder die Sonate für Violine und Basso continuo BWV 1023). Glanzstück dieser Aufnahme: Bachs Praeludium et Fuga in d BWV 539 mit der berühmten faszinierenden Fuge aus der Sonate für Violine solo BWV 1001, der für die Orgel eine fünfte Stimme hinzugefügt wurde – ob von Bach selbst oder von einem Zeitgenossen, wissen wir nicht. Hier wird Lübkings Spiel zum Muster für die Anschaulichkeit und Durchhörbarkeit Bach´scher Dialoge.
Jeder Orgelbegeisterte, jeder Sammler wird auf dieser CD so manches neu und sehr geglückt finden; sie kann aber auch den Beginn einer langen Freundschaft für einen Neueinsteiger darstellen, der hier den Zugang zu herrlicher Musik findet, die fesselt und süchtig macht.
Concerto, März 2024 // Stefan Apfelbeck
Die auffallenden Merkmale ihres Musizierstils stellen gemäßigte Tempi und das bewusst eingesetzte Mittel der musikalischen Deklamation dar, die in der Dosierung zum Teil an die Grenzen des Möglichen stößt.
Für die Meister des Barock prädestiniert (…) Lübking arbeitet wichtige Stimmen klar heraus und führt den Hörer sicher durch alle labyrinthische Kontrapunkte.
Dagmar Lübking, Orgel
Bewertung: 5 von 5 Pfeifen
Nach der Premieren-Einspielung mit Thimo Neumann, Pieter van Dijk und Arvid Gast legte Dagmar Lübking eine weitere Porträt-CD dieser für die Orgelgeschichte Norddeutschlands so wichtigen wie typischen Orgel vor. Dabei liegt der Akzent deutlich auf deren Klangschichten bis 1750. Lübking nähert sich hochstimmigen Werken wie Michael Praetorius’ Hymnus Vita sanctorum, dessen Variationen „Nun lob mein Seel den Herren“, Hans Leo Hasslers Alleluja oder Bachs Pièce d’orgue mit packendem Zugriff. Die Anweisung „Très vitement“ im Eingangsteil der Letzteren übersetzt die Organistin in eine behutsam gegliederte, beflügelte Lebendigkeit – ohne Hektik.
Bergende Ruhe und konzentrierte Spiritualität kennzeichnen dagegen ihre feinfühligen Interpretationen etwa von Heinrich Isaacs Innsbruck ich muss dich lassen / O Welt ich muss dich lassen oder Dietrich Buxtehudes Mit Fried und Freud. Die harmonisch für ihre Zeit bizarre, toccatenhafte Sonatina in d von Christian Ritter aus dem Andreas-Bach-Buch lässt erahnen, wo sich Johann Sebastian Bach Anregungen zu seiner Experimentierfreude holte. Als ähnliche Inspirationsquelle einzuordnen ist die Übertragung von Jean-Baptiste Lullys Chaconne aus seiner Oper Phaeton durch Johann Christoph Bach, entnommen dem Möller Manuscript. Diese Trouvaille geht Dagmar Lübking mit besonders vitaler Spielfreude an.
Generell fällt die sorgfältige Programmwahl dieser Einspielung auf, in der Originalliteratur für Tasteninstrumente, Bearbeitungen und (als deren Sonderfall) Intavolierungen als gleichwertige, oft nicht exakt voneinander trennbare Phänomene ineinandergreifen; darauf geht auch der Kommentar von Dorothea Schröder im Booklet (deutsch/englisch) ein. Angesichts der verschiedenen, in Gruppen erhaltenen Pfeifenbestände der Möllner Scherer-Bünting-Orgel – insbesondere aus der frühen Schaffensphase der Orgelbauer-Dynastie Scherer – wären Registrierangaben hier interessant gewesen. Dagmar Lübking trifft in den allermeisten Fällen eine Auswahl, die historisch wohlbegründet ist, zugleich schöne Hörerlebnisse beschert und bisweilen unkonventionelle Wege geht; so in einigen Chorälen aus Bachs Orgelbüchlein.
Die Aufnahme gibt die etwas trockene Akustik der Möllner Nicolaikirche authentisch wieder. Zu Ungunsten der Plastizität des herrlichen Prospekts ist die Totale der Orgel auf der Rückseite des Beihefts etwas hell geraten. Fazit: Hier war eine Künstlerin am Werk, deren Liebe und Interesse seit Jahrzehnten der Musik des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gehört. Eine Fortsetzung, in der die galanten Qualitäten dieses Instruments zur Geltung kommen, wäre spannend.
Markus Zimmermann
Verlag/Label: ES-DUR, ES 2029 (2024)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2024/01, Seite 59
Die Scherer-Bünting-Orgel zu Mölln.
Dagmar Lübking, Orgel (Scherer 1558, Köster 1568, Stellwagen 1641, Bünting 1766, Marcussen 1885, Tolle1954, rest. u. rek. Flentop 2022, III/ 40). 1 CD, Booklet 18 S., Text dt./ engl. – Hamburg, C2 Hamburg 2023, Verl.-Nr. ES 2093, Strichcode 4 015372 820930. Werke von Bach (Auswahl a.d. Orgelbüchlein), Böhm, Buxtehude, Hassler, Isaac, Kerckhoven, Lully, Praetorius, Ritter)m Mai 2022 wurde in der Kirche St.Nicolai zu Mölln die neue Orgel eingeweiht. Neu an der Orgel allerdings ist nicht das Instrument an sich, sondern, dass hier eine Synthese aus einem halben Jahrtausend Orgelbau und wenigstens zwölf Umbauten und Überarbeitungen durch Orgelbauer aus sechs Jahrhunderten überzeugend zum Klingen gebracht wurde. Keine Eulenspiegelei: Zwei im Halbjahresabstand aufgenommene CDs bringen das Instrument nun auch gewissermaßen zuhause zum Klingen. Zum einen (Label querstand, im folgenden CD 1) spielen mit Pieter van Dijk und Arvid Gast (dazu der Möllner Kirchenmusiker Thimo Neumann) zwei der drei Fachleute, die (zusammen mit Harald Vogel) die Gemeinde und die Firma Flentrop bei dieser umfangreichen Arbeit beraten haben; auf der anderen CD (Label “Es-Dur”, im folgenden CD 2) spielt Dagmar Lübking, Organistin der evangelisch-reformierten Kirche in Hamburg, eine international ausgewiesene Expertin für norddeutsche historische Orgeln und die für sie komponierte Musik. Schon dieser Umstand birgt zusätzlichen Reiz: Jeder Tonmeister, Daniel van Horssen (1) und Udo Potratz (2) hat andere Vorstellungen von Klang bei Orgeln, besonders vom Klang im Raum, und es sind die Tonleute, die letztlich verantwortungsvoll entscheiden, wie die Orgel außerhalb ihres Wirkungsortes aus den Lautsprechern tönt. Tatsächlich bietet CD 2 etwas mehr Raumklang, das heißt: Nachhall, und wagt eine etwas kräftigere Aussteuerung – Differenzen, die in den Bereich “Geschmackssache” fallen und keine Auswirkungen auf die Qualität der gebotenen Programme und ihrer Interpretationen haben.
Zum Glück haben sich die Künstler offenbar abgesprochen, sodass es auf beiden CDs keine Doubletten gibt. Vielmehr entfaltet sich ein reiches Spektrum der Orgelkunst von Heinrich Isaac bis Johann Sebastian Bach (CD 2) und Heinrich Scheidemann über Georg Böhm, Johann Gottfried Müthel gar Wolfgang Amadeus Mozart bis hin ins 21. Jahrhundert, eine gregorianische motivierte minimal-Meditation des 1957 geborenen Andriess van Rossem (CD 1). Das “Oneliner” genannte, einstimmige Stück mag nicht unbedingt Konzertmusik sein, weist aber einen Weg, wie historische Orgeln, die im Gebrauch einer lebendigen Gemeindekultur stehen sollen, sich über ihren musealen Charakter hinaus bewähren können.
Das Instrument an sich wird in beiden Alben gut dokumentiert, natürlich mit der Disposition der auf drei Manualen und Pedal verteilten 40 Register sowie der Benennung ihrer Herkunft. Dabei stammen Prinzipal 16´und Octave 8´ im Pedal aus dem ersten, 1436 dokumentierten Instrument und werden als älteste spielbare Orgelpfeifen in Deutschland bezeichnet. Jacob Scherer hatte sie schon 1555/ 85 in seinen Neubau integriert, ebenso in späteren Jahrhunderten prominente Namen wie Stellwagen und Marcussen. Christoph Julius Bünting im 18. Jahrhundert, auf den eine völlige Neuanlage und (im Wesentlichen) das jetzige Gehäuse zurückgehen, sowie natürlich zuletzt Flentrop haben sie beibehalten. Die Geschichte der Orgel dokumentiert (in einem Aufsatz von Markus Zimmermann) CD 1 (dt./engl./ nl.) akribischer, zum Programm schreibt Dorothea Schröder in CD 2 (d./ engl.) ausführlicher.
Die “prachtvollen Plena, schnarrenden Zungen und leuchtenden Solostimmen eines norddeutsch-hanseatischen Repräsentationsinstrumenets”, wie es Zimmermann zutreffend beschreibt, vereinen sich mit delikater, farbenreicher und feinabgestufter Eleganz “einer galanten Orgel fast mitteldeutscher Prägung”. Am eindrücklichsten zeigt sich dies natürlich in den reichlich aufgenommenen Variations- und vers-gebundenen Werken, die ohne umständliche und klapprige Registriervorgänge so nur auf Tonträgern zu hören sind – ein Vorteil gegenüber dem Konzert. Über elektrische, gar digitale Spielhilfen über die Winderzeugung hinaus verfügen historische Orgeln natürlich nicht (insgeheim: Nicht doch ein wenig schade?). Bei CD 1 kommt die “modifiziert mitteltönige Temperierung ” den Werken von Scheidemann, Weckmann und Böhm entgegen und verleiht auch dem naturgemäß die Flöten in Szene setzenden Mozartschen KV 171 zusätzlichen Reiz; anders als in CD 2 werden hier auch die verwendeten Register für jedes Stück genannt. Wie grenzwertig die historische Stimmung in unseren Ohren wirkt, zeigt das CD 2 abschließende “Pièce d´orgue” Johann Sebastian Bachs. Der im vollen Werk und mit rhetorischem Impetus gespielte “gravement”-Mittelteil (der Track ist etwas zu früh gesetzt) wandert fünfstimmig durch den gesamten Quintenzirkel; für seine harmonischen Künste war Bach berühmt und vielleicht auch deshalb offen für “wohltemperierte” Stimmungen, die allzu sperrige Wolfsquinten vermeiden helfen. Dagmar Lübking bietet zuvor eine Auswahl von neun Chorälen aus dem “Orgelbüchlein” in sehr fantasievollen Registrierungen. CD 1 schließt, etwas akademisch gespielt, mit der allbekannten Bach-Toccata BWV 565. Alles in allem zwei vorbildliche Hommages an eine neu erstandene Orgel, die nun nicht nur im CD-Player, sondern auch im Südosten Schleswig-Holsteins gepflegt, gespielt und gehört werden will.
Andreas Bomba // Ars Organi, Heft 1 März 2025
Für die Meister des Barock prädestiniert
Kirchenmusik: Dagmar Lübking spielt die rekonstruierte Scherer-Bünting-Orgel zu St. Nicolai in Mölln
Der Name der Stadt Mölln erlangte zweifelhafte Berühmtheit des ersten rassistischen Brandanschlags im wiedervereinigten Deutschland wegen, der zum Anlaß der Lichterkettenkultur genommen wurde und dessen 30jähriges Jubiläum der politisch- mediale Komplex im vorvorigen Jahr begangen hat. Doch hat die Stadt im Kreis Herzogtum Lauenburg im Südosten Schleswig-Holsteins durchaus mehr zu bieten als bürgergesellschaftliche Schuldkultpflege, die aus sich selbst und diversen Fördertöpfen heraus stets sich erneuert. Da ist das angebliche Grab des Bauernsohns Till Eulenspiegel an der Westseite des Turms der Stadtpfarrkirche St. Nicolai mit dem Bildnis Tills, da ist die Kirche selbst, der Backsteinromanik bzw.-gotik zuzurechen, dem Heiligen Nikolaus von Myra geweiht.
Neben spätgotischem Geläut und kultur- und kunsthistorisch gewiß bedeutsamem Inventar findet sich auch in dieser Kirche eines jener magischen Objekte, die immer wieder Atheisten in christliche Gotteshäuser ziehen: die Kirchenorgel. Und wie jede andere hat auch diese ihre Geschichte, die meistenteils Rekonstruktionsgeschichte ist, und ihren nur ihr eigenen Klang.
An der Möllner Orgel haben die bedeutendsten Orgelbaumeister des 16. und 17. Jahrhundert gebaut, wie Jacob Scherer (1555-1558), Hans Köster (1568), Friedrich Stellwagen (1637-1641). Den frühesten Hinweis auf die Existenz einer Orgel in der Kirche gibt ein Rentenbescheid für den Organisten aus dem Jahr 1436. Für seinen Orgelneubau hat Scherer Pfeifen aus dem Vorgängerbau – die ältesten bekannten gotischen Orgelpfeifen der norddeutschen Orgelbaukunst – übernommen, Christoph Julius Bünting mit seinem neuen Gehäuse (1754-1766) der Orgel ihren spätbarocken Charakter gegeben.
Weitere Umbauten erfolgten im 19. und 20. Jahrhundert. In den Jahren 2018 bis 2022 wurde die Orgel von der Werkstatt Flentrop Orgelbouw, Zaandam, grundlegend restauriert und dabei die Disposition nach den Arbeiten von Bünting wiederher-gestellt. Flentrop integrierte auch Pfeifen von Scherer, die für den Neubau der Orgel von St.Nicolai zu Kappeln an der Schlei keine Verwendung fanden und von der Kirchengemeinde Mölln erworben werden konnten. Jede der Veränderungen hat ihre Male in Bau und Klang der Orgel eingeschrieben. Heute verfügt die Orgel über 39 Register, die auf drei Manuale und Pedal verteilt sind.
Muß sich der reisende Orgelvirtuose auf jede Orgel neu einstellen, so hat der mit seiner Orgel, seiner Kirche und seiner Gemeinde verbundene Organist das Problem nicht. Und wer als Kirchen- oder Konzertbesucher Gelegenheit hat, mit dem ansässigen Organisten ins Gespräch zu kommen, der könnte in seinem Verdacht bestärkt werden, daß vielleicht gar nicht Altar und Kanzel, sondern ihr Gegenüber das wahre Herzstück der Kirche sei und diese nur Klangraum jener. Der Organist erweist sich an der Orgel, der sie durch die Wahl der Stücke, ihre sinnvolle und angemessene Registrierung, sein Hand- und Fuß-Spiel zu voller Geltung bringt, wie die Stücke durch sie. Und selbstverständlich darf der Organist auch eine Organistin sein.
Dagmar Lübking studierte zunächst Musikwissenschaft und Altphilologie, bevor sie sich 1982 der Kirchenmusik zuwandte. Nach dem Studium in Frankfurt am Main setzte sie ihre Studien zwei Jahre lang in Basel und Wien fort. Sie wurde 1987 Organistin an der Alten Nikolaikirche und lehrte an Kirchenmusikschule und Musikhochschule in Frankfurt am Main. Seit 1998 ist die international gefragte Organistin, Cembalistin und Continuospielerin auf ihrer Truhenorgel bei der Evangelisch-reformierten Kirche in Hamburg angestellt.
Ihr Spiel auf der rekonstruierten Scherer-Bünting-Orgel geht auf mehr aus als lediglich Einsicht in die “Biographie” der Orgel zu gewähren und vorzuführen, was da alles für Register gezogen und geschoben werden können. Die Orgel scheint für die Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts prädestiniert, und Lübking hat sich für Meister des Barock entschieden. Dem Osterhymnus des Michael Praetorius weiß sie volles Werk zu geben, aber die letzte Dröhnung ist ihr nicht alles. Auf Heinrich Isaacs deutsches Lied “Innsbruck, ich muß dich lassen” in der reich ornamentierten Bearbeitung von Heinrich Ochsenkun läßt sie die schlichte von Elias Ammerbach antworten. Es gibt viel zu entdecken auf der CD mit weiteren Stücken von Hassler, Abraham van den Kerckhoven, Christian Ritter, Georg Böhm und sogar mit der Chaconne aus Lullys Oper “Phaeton” in einer Übertragung für Orgel von Johann Christian Bach und Choralsätzen aus Johann Sebastian Bachs Orgelbüchlein.
Lübking arbeitet wichtige Stimmen klar heraus und führt den Hörer sicher durch alle labyrinthische Kontrapunktik. Sie läßt in Dieterich Buxtehudes Trauermusik ganz zarte meditative Momente entstehen, die er dem Blasinstrument Orgel gar nicht zugetraut hätte, der Steuerfrau des Winddrucks jedoch schon. Mit der die CD beschließenden Pièce d´orgue BWV 572 hat der Virtuose und Experimentator Bach Mitwelt und Nachwelt in Staunen versetzt und die Organistin ihren Hörer auch.
Daß auf einer CD das spezifische Verhältnis von Orgel und Raum immer nur einigermaßen festgehalten werden kann, das ist keineswegs Interpretin und Produzenten anzulasten, sonderm dem heutigen Stand der Tontechnik geschuldet. Wer den Klang der Scherer-Orgel in dem Raum voll sich entfalten hören will, für den sie konzipiert worden ist, demselben und doch nicht demselben Raum, der muß sich nach Mölln in die St.Nicolai-Kirche bequemen, der muß zu Dagmar Lübking.
Jens Knorr // JF 17. Mai 2024
Pilsum. Das zweite Konzert des Krummhörner Orgelfrühlings fand in der Kreuzkirche zu Pilsum statt. Dort spielte die Hamburger Organistin Dagmar Lübking die Orgel von Valentin Ulrich Grotian aus dem Jahr 1694. Dabei zeigte Lübking die ganze Bandbreite dessen, was die große Orgel mit ihren 20 Registern auf zwei Manualen, dem Haupt-, dem Brustwerk und dem angehängten Pedal zu leisten imstande ist. Sie wählte dabei geistliche wie weltliche Musik, einmal ging es gar in den höfischen Bereich.
Das bekannte Lied „Innsbruck ich muss dich lassen“ zur klangvollen Musik von Heinrich Isaac fand ebenso Aufnahme in das Programm wie die gemessen und behutsam sich entwickelnden Variationen über „Nun lob, mein Seel, den Herren“ von Michael Praetorius oder der stark rhythmisierte Tanz „Lo ballo dell Intorcia“ von Antonio Valente.
Mit dem zauberhaften „Capriccio sopra il Cucu“ von Johann Kaspar Kerll eröffnete Lübking die Schlussphase ihres Konzertes. Ein leichtes Raunen ging dabei durch das Publikum, das das unvermutet auftauchende fröhliche „Kuckuck“ in einem Konzert für Alte Musik wohl gar nicht erwartet hatte. Natürlich durfte das Schwergewicht der Musik nicht fehlen. Von Johann Sebastian Bach hatte Dagmar Lübking zwei Werke ausgewählt: die Fantasie in a (BWV 904), deren Schwierigkeitsgrad als „schwer“ klassifiziert wird und die Lübking mit feiner Noblesse spielte. Das zweite Werk war das Adagio aus dem Concerto in D-moll, ein traumverloren schönes Stück, das abgelöst wurde durch eine tänzelnde Ciaconna in G von Jean Baptiste Lully – Musik aus einer Barockoper. Dagmar Lübking ließ an diesem Abend die Orgel singen und klingen. Sie bot dem Instrument luftige Freiräume und meditative Stille. Sie lotete die emotionalen Tiefen aus und berücksichtigte auch die Momente von Klage und Lobpreis. So entstand ein musikalischer Kosmos voller Schönheit und fein abgestimmter Gefühlslagen – immerhin befinden wir uns immer noch in der 50-tägigen Osterzeit, die diese Vielfalt an Emotionen zulässt. Und so war es ein sanftes „Stück zur Nacht“, das diesen Abend mit Zartheit beendete.
Kultur in Emden, 8. Mai 2025 wag
Hamburger Organistin widmet sich ganz der alten Musik
Ausschließlich Musik des Barock, von Hans Leo Haßler bis Johann Sebastian Bach bestimmte das Orgelkonzert von Dagmar Lübking in der Konstantin-Basilika. Ein Programm, das der Orgel geradezu auf den Leib geschnitten war.
Manchmal erlebt man Konzerte, da sehnt man sich danach, dass endlich das Ende kommt. Man langweilt sich, es geschieht nichts, das auch nur ein wenig die Aufmerksamkeit erregt. Es gibt aber auch die Konzerte, bei denen man bedauert, dass es schon vorbei ist, wo man unwillkürlich an das viel geschundene Zitat “Verweile doch, Du bist so schön!” aus Goethes Faust denken muss. Dagmar Lübking, Organistin der evangelisch-reformierten Kirche in Hamburg und Solistin beim siebten sommerlichen Orgelkonzert in der Konstantin-Basilika in Trier schaffte es, diesen Wunsch hervor zu rufen. Ihr Abend war fast eine Ouvertüre zur langen Nacht der Alten Musik, die am heutigen Freitag ebenfalls in der Konstantin-Basilika über die Bühne geht. Johann Sebastian Bach war der jüngste Komponist, der sich auf Lübkings Programm fand.
War es mutig? War es frech, was die Hamburger Kantorin ihrem Publikum anbot? Viele Dogmatiker der so genannten authentischen Spielweise hätten Lübking nach diesem Konzert auf den Scheiterhaufen geführt und sie im Namen der historischen Aufführungspraxis durch die Flammen läutern lassen. Wie kann man das “Alleluja, laudem dicite” von Hans Leo Haßler oder die Bachsche Fantasie c-Moll, BWV 1121, mit den spanischen Trompeten spielen? Man kann! Und wenn man es so spielt, wie Lübking, klingt es großartig. Es war ein Nutzen der klanglichen Möglichkeiten der Schuke-Orgel, die sich rundherum wohlfühlte, ja förmlich aufblühte. Lübking hatte ihr das Programm förmlich auf den Leib geschneidert. Bei Matthias Weckmanns Toccata in d oder bei Dietrich Buxtehudes Praeludium in g, BuxWV 163, musste man sich schon vergewissern, ob man wirklich die Basilika-Orgel hört, so charmant norddeutsch erfüllten die Klänge den Raum. Bachs Choralvorspiel “Erbarm dich mein”, BWV 721, vereinigte durch Registerwahl und Spielweise in großartiger Form Verzweiflung und Zuversicht des Choralinhaltes. Vielleicht das schönste Stück des Abends.
Was Lübking bot, war ein selbstbewußtes Konzert, bar jeder Effekthascherei, die ihrer Person gedient hätte. Kaum jemand würde es wagen, ein Konzertfinale (Bachs Fantasie G-Dur, BWV 572) im Mezzoforte zu beschließen. Lübking konnte es und blieb damit sich selbst und der Musik treu. Das Publikum hatte es verstanden und dankte ihr mit langem und kräftigem Applaus. Darin enthalten die Feststellung: Schade, daß es schon vorbei ist.
Trierer Volksfreund, 17. August 2007 // Gerhard W. Kluth
Gedanken zu einigen aktuellen CD-Einspielungen Bachscher Orgelwerke
Dass auch diejenigen Organisten bzw. Organistinnen, die nicht zu den Stars am Orgelhimmel gehören, mit bemerkenswerten Bacheinspielungen aufwarten können, zeigt Dagmar Lübking mit ihrer Aufnahme. Sie hat sowohl Kirchenmusik und Orgel wie auch Musikwissenschaft studiert und verfügt somit über das notwendige Rüstzeug für eine fundierte Interpretation.
Die auffallenden Merkmal ihres Musizierstils stellen gemäßigte Tempi und das bewußt eingesetzte Mittel der musikalischen Deklamation dar, die in der Dosierung zum Teil an die Grenzen des Möglichen stößt. Das betrifft im besonderem Maße die Wechsel zwischen Solo- und Tutti-Passagen in Vivaldis Concerto BWV 593.
Auf einige Besonderheiten ihres Spiels der Partita Sei gegrüßet, Jesu gütig sei hingewiesen. Den eröffnenden Choral bringt sie in einer Principalmischung in Manual und Pedal zu Gehör, wobei das Pedal zusätzlich durch Fagott 16´ (vielleicht unbeabsichtigte) Vordergründigkeit erhält.
Dagmar Lübking stellt die einzelnen nachfolgenden Variationen unter einen großen Bogen hinsichtlich der Temporelationen. So besitzen die Manualiter-Versionen insgesamt das gleiche Grundtempo. Damit erhält das oft im Prestissimo zu hörende Bicinium (Variation III) eine wohltuende innere Ruhe und melodische Ausstrahlung.
Variation VI erklingt im französischen Gusto mit verkürzten Notenwerten in den Auftakten (abweichend von der Notation). Mit einer markigen Registrierung trägt sie die im Stil einer Sarabande gehaltene vorletzte Variation vor. Sie wird damit der majestätischen Satzstruktur durchaus gerecht.
Ars Organi, März 2000 // Felix Friedrich
Daß sich Hamburgs Reichtum an hörenswerten Orgeln nicht auf die Hauptkirchen beschränkt, bestätigt ein kürzlich erschienenes Tondokument aus der evangelisch-reformierten Kirche in der Palmaille. 1969 von der Firma Ahrend und Brunzema erbaut – Jürgen Ahrend empfing dieses Jahr den Buxtehude-Preis der Stadt Lübeck-, stehen Pfeifenwerk und Mechanik im Einklang mit der Tradition der “norddeutschen Orgelschule” des 17. und frühen 18. Jahrhunderts.
1998 wurde das Instrument zum künstlerischen Kraftwerk der Organistin und Cembalistin Dagmar Lübking. Dem Charakter der Orgel entsprechend wählte die Virtuosin, die unter anderem bei den Koryphäen Daniel Chorzempa in Basel und Michael Radulescu in Wien studierte, ihr CD-Repertoire – beginnend mit einem Praeludium und einer Canzona von Franz Tunder, dem Amtsvorgänger Dietrich Buxtehudes an der doppelt getürmten Kirche der Lübecker Kaufmannschaft, St. Marien.
Tunder war Trauzeuge des Hamburger Jacobi-Organisten Matthias Weckmann, den Dagmar Lübking anschließend mit zwei Orgelkompositionen vorstellt. Der Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz hatte seinen Chorknaben, als er in den Stimmbruch kam, stromabwärts nach Hamburg geschickt: in die Lehre des Petri-Organisten Jacob Praetorius aus der Schule des Amsterdamer “Organistenmachers” Jan Pieterszoon Sweelinck.
In der Hansestadt traf Weckmann auf einen zweiten Sweelinck-Schüler, den Catharinen-Organisten Heinrich Scheidemann – eine Begegnung, die den Hamburger Musikschriftsteller Johann Mattheson in seiner “Ehrenpforte” zu der Bemerkung hinriss, sie habe Weckmann “Anlass” gegeben, “die prätorianische Ernsthaftigkeit mit einer scheidemannschen Lieblichkeit zu mäßigen”.
Wie recht der Musikkritiker mit dieser Einschätzung hatte, führt Dagmar Lübkings Interpretation der “Toccata in d” und des Orgelchorals “Ach wir armen Sünder” von Matthias Weckmann bezwingend vor Ohren. Respekt vor der Meisterschaft der norddeutschen Orgelkomponisten jener Zeit lehrt auch ein “Magnificat noni toni” des Braunschweiger Marienorganisten Delphin Strungk.
Zu guter Letzt nimmt sich Dagmar Lübking – barocker Gepflogenheit folgend – die Freiheit, eine Violinsonate und eine Kantatenarie Johann Sebastians Bachs auf “ihre” Orgel zu übertragen. Wem sich bei diesem Gedanken die Nackenhaare sträuben, der höre erst einmal hin: Hauptwerk, Brustwerk und Pedal der Ahrend-Orgel bieten ideale Lebensbedingungen für Bachs generalbass-fundierte Kontrapunktik. Natürlich enthält die CD auch Orgelmusik von Bach pur: eine Toccata sowie Präludium und Fuge in d-Moll. Letztere modellierte Bach übrigens nach einer Geigen-Fuge.
DIE WELT, Freitag, 13.Juli 2007 // Lutz Lessle
Weckmann, Strungk, Tunder, Bach. Choralbearbeitungen und freie Orgelwerke. Dagmar Lübking (Ahrend-Brunzema-Orgel der ev.-ref. Kirche Hamburg, Palmaille. Tonstudio Es-Dur, DL 2003)
Die vorliegende CD stellt schon ein kleines Wunder dar, dank des Instruments der Firma Ahrend und Brunzema aus dem Jahr 1969 und im Besonderen dank des hinreißenden Spiels von Dagmar Lübking. An der Orgel findet sich eine keineswegs außergewöhnliche Dispostion, doch was der Intonateur an den nur 15 Registern vollbrachte, macht das Instrument so wunderbar geeignet für die barocke Literatur.
Selten genug findet man so differenziert zeichnende Register, die einzeln verwendet einen persönlichen Charakter aufzeigen, sich aber auch im vollen Werk harmonisch einfügen. Denn Lübking artikuliert sehr deutlich, spielt durchsichtig, findet immerzu ein neu zusammengestelltes farbenprächtiges Plenum, das angenehm zu hören ist und das Ohr zu keiner Zeit ermüdet; sie interpretiert mitreißend, so voller Leben, spielt tief bewegend und berührt die Seele; jeder verklingende Ton macht neugierig auf den folgenden.
Die ausgewählten Komponisten gehören zu den Klassikern der Orgelliteratur; neben der norddeutschen Tradition eines Tunder und Strungk stehen Bach und Weckmann. Es finden sich bekannte Orgelwerke aber auch Orgel-Adaptionen Bach´scher Kammermusik (z.B. die Clavier-Toccata BWV 916 oder die Sonate für Violine und Basso continuo BWV 1023). Glanzstück dieser Aufnahme: Bachs Praeludium et Fuga in d BWV 539 mit der berühmten faszinierenden Fuge aus der Sonate für Violine solo BWV 1001, der für die Orgel eine fünfte Stimme hinzugefügt wurde – ob von Bach selbst oder von einem Zeitgenossen, wissen wir nicht. Hier wird Lübkings Spiel zum Muster für die Anschaulichkeit und Durchhörbarkeit Bach´scher Dialoge.
Jeder Orgelbegeisterte, jeder Sammler wird auf dieser CD so manches neu und sehr geglückt finden; sie kann aber auch den Beginn einer langen Freundschaft für einen Neueinsteiger darstellen, der hier den Zugang zu herrlicher Musik findet, die fesselt und süchtig macht.
Concerto, März 2024 // Stefan Apfelbeck
Die auffallenden Merkmale ihres Musizierstils stellen gemäßigte Tempi und das bewusst eingesetzte Mittel der musikalischen Deklamation dar, die in der Dosierung zum Teil an die Grenzen des Möglichen stößt.
Für die Meister des Barock prädestiniert (…) Lübking arbeitet wichtige Stimmen klar heraus und führt den Hörer sicher durch alle labyrinthische Kontrapunkte.
Dagmar Lübking, Orgel
Bewertung: 5 von 5 Pfeifen
Nach der Premieren-Einspielung mit Thimo Neumann, Pieter van Dijk und Arvid Gast legte Dagmar Lübking eine weitere Porträt-CD dieser für die Orgelgeschichte Norddeutschlands so wichtigen wie typischen Orgel vor. Dabei liegt der Akzent deutlich auf deren Klangschichten bis 1750. Lübking nähert sich hochstimmigen Werken wie Michael Praetorius’ Hymnus Vita sanctorum, dessen Variationen „Nun lob mein Seel den Herren“, Hans Leo Hasslers Alleluja oder Bachs Pièce d’orgue mit packendem Zugriff. Die Anweisung „Très vitement“ im Eingangsteil der Letzteren übersetzt die Organistin in eine behutsam gegliederte, beflügelte Lebendigkeit – ohne Hektik.
Bergende Ruhe und konzentrierte Spiritualität kennzeichnen dagegen ihre feinfühligen Interpretationen etwa von Heinrich Isaacs Innsbruck ich muss dich lassen / O Welt ich muss dich lassen oder Dietrich Buxtehudes Mit Fried und Freud. Die harmonisch für ihre Zeit bizarre, toccatenhafte Sonatina in d von Christian Ritter aus dem Andreas-Bach-Buch lässt erahnen, wo sich Johann Sebastian Bach Anregungen zu seiner Experimentierfreude holte. Als ähnliche Inspirationsquelle einzuordnen ist die Übertragung von Jean-Baptiste Lullys Chaconne aus seiner Oper Phaeton durch Johann Christoph Bach, entnommen dem Möller Manuscript. Diese Trouvaille geht Dagmar Lübking mit besonders vitaler Spielfreude an.
Generell fällt die sorgfältige Programmwahl dieser Einspielung auf, in der Originalliteratur für Tasteninstrumente, Bearbeitungen und (als deren Sonderfall) Intavolierungen als gleichwertige, oft nicht exakt voneinander trennbare Phänomene ineinandergreifen; darauf geht auch der Kommentar von Dorothea Schröder im Booklet (deutsch/englisch) ein. Angesichts der verschiedenen, in Gruppen erhaltenen Pfeifenbestände der Möllner Scherer-Bünting-Orgel – insbesondere aus der frühen Schaffensphase der Orgelbauer-Dynastie Scherer – wären Registrierangaben hier interessant gewesen. Dagmar Lübking trifft in den allermeisten Fällen eine Auswahl, die historisch wohlbegründet ist, zugleich schöne Hörerlebnisse beschert und bisweilen unkonventionelle Wege geht; so in einigen Chorälen aus Bachs Orgelbüchlein.
Die Aufnahme gibt die etwas trockene Akustik der Möllner Nicolaikirche authentisch wieder. Zu Ungunsten der Plastizität des herrlichen Prospekts ist die Totale der Orgel auf der Rückseite des Beihefts etwas hell geraten. Fazit: Hier war eine Künstlerin am Werk, deren Liebe und Interesse seit Jahrzehnten der Musik des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gehört. Eine Fortsetzung, in der die galanten Qualitäten dieses Instruments zur Geltung kommen, wäre spannend.
Markus Zimmermann
Verlag/Label: ES-DUR, ES 2029 (2024)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2024/01, Seite 59
Die Scherer-Bünting-Orgel zu Mölln.
Dagmar Lübking, Orgel (Scherer 1558, Köster 1568, Stellwagen 1641, Bünting 1766, Marcussen 1885, Tolle1954, rest. u. rek. Flentop 2022, III/ 40). 1 CD, Booklet 18 S., Text dt./ engl. – Hamburg, C2 Hamburg 2023, Verl.-Nr. ES 2093, Strichcode 4 015372 820930. Werke von Bach (Auswahl a.d. Orgelbüchlein), Böhm, Buxtehude, Hassler, Isaac, Kerckhoven, Lully, Praetorius, Ritter)m Mai 2022 wurde in der Kirche St.Nicolai zu Mölln die neue Orgel eingeweiht. Neu an der Orgel allerdings ist nicht das Instrument an sich, sondern, dass hier eine Synthese aus einem halben Jahrtausend Orgelbau und wenigstens zwölf Umbauten und Überarbeitungen durch Orgelbauer aus sechs Jahrhunderten überzeugend zum Klingen gebracht wurde. Keine Eulenspiegelei: Zwei im Halbjahresabstand aufgenommene CDs bringen das Instrument nun auch gewissermaßen zuhause zum Klingen. Zum einen (Label querstand, im folgenden CD 1) spielen mit Pieter van Dijk und Arvid Gast (dazu der Möllner Kirchenmusiker Thimo Neumann) zwei der drei Fachleute, die (zusammen mit Harald Vogel) die Gemeinde und die Firma Flentrop bei dieser umfangreichen Arbeit beraten haben; auf der anderen CD (Label “Es-Dur”, im folgenden CD 2) spielt Dagmar Lübking, Organistin der evangelisch-reformierten Kirche in Hamburg, eine international ausgewiesene Expertin für norddeutsche historische Orgeln und die für sie komponierte Musik. Schon dieser Umstand birgt zusätzlichen Reiz: Jeder Tonmeister, Daniel van Horssen (1) und Udo Potratz (2) hat andere Vorstellungen von Klang bei Orgeln, besonders vom Klang im Raum, und es sind die Tonleute, die letztlich verantwortungsvoll entscheiden, wie die Orgel außerhalb ihres Wirkungsortes aus den Lautsprechern tönt. Tatsächlich bietet CD 2 etwas mehr Raumklang, das heißt: Nachhall, und wagt eine etwas kräftigere Aussteuerung – Differenzen, die in den Bereich “Geschmackssache” fallen und keine Auswirkungen auf die Qualität der gebotenen Programme und ihrer Interpretationen haben.
Zum Glück haben sich die Künstler offenbar abgesprochen, sodass es auf beiden CDs keine Doubletten gibt. Vielmehr entfaltet sich ein reiches Spektrum der Orgelkunst von Heinrich Isaac bis Johann Sebastian Bach (CD 2) und Heinrich Scheidemann über Georg Böhm, Johann Gottfried Müthel gar Wolfgang Amadeus Mozart bis hin ins 21. Jahrhundert, eine gregorianische motivierte minimal-Meditation des 1957 geborenen Andriess van Rossem (CD 1). Das “Oneliner” genannte, einstimmige Stück mag nicht unbedingt Konzertmusik sein, weist aber einen Weg, wie historische Orgeln, die im Gebrauch einer lebendigen Gemeindekultur stehen sollen, sich über ihren musealen Charakter hinaus bewähren können.
Das Instrument an sich wird in beiden Alben gut dokumentiert, natürlich mit der Disposition der auf drei Manualen und Pedal verteilten 40 Register sowie der Benennung ihrer Herkunft. Dabei stammen Prinzipal 16´und Octave 8´ im Pedal aus dem ersten, 1436 dokumentierten Instrument und werden als älteste spielbare Orgelpfeifen in Deutschland bezeichnet. Jacob Scherer hatte sie schon 1555/ 85 in seinen Neubau integriert, ebenso in späteren Jahrhunderten prominente Namen wie Stellwagen und Marcussen. Christoph Julius Bünting im 18. Jahrhundert, auf den eine völlige Neuanlage und (im Wesentlichen) das jetzige Gehäuse zurückgehen, sowie natürlich zuletzt Flentrop haben sie beibehalten. Die Geschichte der Orgel dokumentiert (in einem Aufsatz von Markus Zimmermann) CD 1 (dt./engl./ nl.) akribischer, zum Programm schreibt Dorothea Schröder in CD 2 (d./ engl.) ausführlicher.
Die “prachtvollen Plena, schnarrenden Zungen und leuchtenden Solostimmen eines norddeutsch-hanseatischen Repräsentationsinstrumenets”, wie es Zimmermann zutreffend beschreibt, vereinen sich mit delikater, farbenreicher und feinabgestufter Eleganz “einer galanten Orgel fast mitteldeutscher Prägung”. Am eindrücklichsten zeigt sich dies natürlich in den reichlich aufgenommenen Variations- und vers-gebundenen Werken, die ohne umständliche und klapprige Registriervorgänge so nur auf Tonträgern zu hören sind – ein Vorteil gegenüber dem Konzert. Über elektrische, gar digitale Spielhilfen über die Winderzeugung hinaus verfügen historische Orgeln natürlich nicht (insgeheim: Nicht doch ein wenig schade?). Bei CD 1 kommt die “modifiziert mitteltönige Temperierung ” den Werken von Scheidemann, Weckmann und Böhm entgegen und verleiht auch dem naturgemäß die Flöten in Szene setzenden Mozartschen KV 171 zusätzlichen Reiz; anders als in CD 2 werden hier auch die verwendeten Register für jedes Stück genannt. Wie grenzwertig die historische Stimmung in unseren Ohren wirkt, zeigt das CD 2 abschließende “Pièce d´orgue” Johann Sebastian Bachs. Der im vollen Werk und mit rhetorischem Impetus gespielte “gravement”-Mittelteil (der Track ist etwas zu früh gesetzt) wandert fünfstimmig durch den gesamten Quintenzirkel; für seine harmonischen Künste war Bach berühmt und vielleicht auch deshalb offen für “wohltemperierte” Stimmungen, die allzu sperrige Wolfsquinten vermeiden helfen. Dagmar Lübking bietet zuvor eine Auswahl von neun Chorälen aus dem “Orgelbüchlein” in sehr fantasievollen Registrierungen. CD 1 schließt, etwas akademisch gespielt, mit der allbekannten Bach-Toccata BWV 565. Alles in allem zwei vorbildliche Hommages an eine neu erstandene Orgel, die nun nicht nur im CD-Player, sondern auch im Südosten Schleswig-Holsteins gepflegt, gespielt und gehört werden will.
Andreas Bomba // Ars Organi, Heft 1 März 2025
Für die Meister des Barock prädestiniert
Kirchenmusik: Dagmar Lübking spielt die rekonstruierte Scherer-Bünting-Orgel zu St. Nicolai in Mölln
Der Name der Stadt Mölln erlangte zweifelhafte Berühmtheit des ersten rassistischen Brandanschlags im wiedervereinigten Deutschland wegen, der zum Anlaß der Lichterkettenkultur genommen wurde und dessen 30jähriges Jubiläum der politisch- mediale Komplex im vorvorigen Jahr begangen hat. Doch hat die Stadt im Kreis Herzogtum Lauenburg im Südosten Schleswig-Holsteins durchaus mehr zu bieten als bürgergesellschaftliche Schuldkultpflege, die aus sich selbst und diversen Fördertöpfen heraus stets sich erneuert. Da ist das angebliche Grab des Bauernsohns Till Eulenspiegel an der Westseite des Turms der Stadtpfarrkirche St. Nicolai mit dem Bildnis Tills, da ist die Kirche selbst, der Backsteinromanik bzw.-gotik zuzurechen, dem Heiligen Nikolaus von Myra geweiht.
Neben spätgotischem Geläut und kultur- und kunsthistorisch gewiß bedeutsamem Inventar findet sich auch in dieser Kirche eines jener magischen Objekte, die immer wieder Atheisten in christliche Gotteshäuser ziehen: die Kirchenorgel. Und wie jede andere hat auch diese ihre Geschichte, die meistenteils Rekonstruktionsgeschichte ist, und ihren nur ihr eigenen Klang.
An der Möllner Orgel haben die bedeutendsten Orgelbaumeister des 16. und 17. Jahrhundert gebaut, wie Jacob Scherer (1555-1558), Hans Köster (1568), Friedrich Stellwagen (1637-1641). Den frühesten Hinweis auf die Existenz einer Orgel in der Kirche gibt ein Rentenbescheid für den Organisten aus dem Jahr 1436. Für seinen Orgelneubau hat Scherer Pfeifen aus dem Vorgängerbau – die ältesten bekannten gotischen Orgelpfeifen der norddeutschen Orgelbaukunst – übernommen, Christoph Julius Bünting mit seinem neuen Gehäuse (1754-1766) der Orgel ihren spätbarocken Charakter gegeben.
Weitere Umbauten erfolgten im 19. und 20. Jahrhundert. In den Jahren 2018 bis 2022 wurde die Orgel von der Werkstatt Flentrop Orgelbouw, Zaandam, grundlegend restauriert und dabei die Disposition nach den Arbeiten von Bünting wiederher-gestellt. Flentrop integrierte auch Pfeifen von Scherer, die für den Neubau der Orgel von St.Nicolai zu Kappeln an der Schlei keine Verwendung fanden und von der Kirchengemeinde Mölln erworben werden konnten. Jede der Veränderungen hat ihre Male in Bau und Klang der Orgel eingeschrieben. Heute verfügt die Orgel über 39 Register, die auf drei Manuale und Pedal verteilt sind.
Muß sich der reisende Orgelvirtuose auf jede Orgel neu einstellen, so hat der mit seiner Orgel, seiner Kirche und seiner Gemeinde verbundene Organist das Problem nicht. Und wer als Kirchen- oder Konzertbesucher Gelegenheit hat, mit dem ansässigen Organisten ins Gespräch zu kommen, der könnte in seinem Verdacht bestärkt werden, daß vielleicht gar nicht Altar und Kanzel, sondern ihr Gegenüber das wahre Herzstück der Kirche sei und diese nur Klangraum jener. Der Organist erweist sich an der Orgel, der sie durch die Wahl der Stücke, ihre sinnvolle und angemessene Registrierung, sein Hand- und Fuß-Spiel zu voller Geltung bringt, wie die Stücke durch sie. Und selbstverständlich darf der Organist auch eine Organistin sein.
Dagmar Lübking studierte zunächst Musikwissenschaft und Altphilologie, bevor sie sich 1982 der Kirchenmusik zuwandte. Nach dem Studium in Frankfurt am Main setzte sie ihre Studien zwei Jahre lang in Basel und Wien fort. Sie wurde 1987 Organistin an der Alten Nikolaikirche und lehrte an Kirchenmusikschule und Musikhochschule in Frankfurt am Main. Seit 1998 ist die international gefragte Organistin, Cembalistin und Continuospielerin auf ihrer Truhenorgel bei der Evangelisch-reformierten Kirche in Hamburg angestellt.
Ihr Spiel auf der rekonstruierten Scherer-Bünting-Orgel geht auf mehr aus als lediglich Einsicht in die “Biographie” der Orgel zu gewähren und vorzuführen, was da alles für Register gezogen und geschoben werden können. Die Orgel scheint für die Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts prädestiniert, und Lübking hat sich für Meister des Barock entschieden. Dem Osterhymnus des Michael Praetorius weiß sie volles Werk zu geben, aber die letzte Dröhnung ist ihr nicht alles. Auf Heinrich Isaacs deutsches Lied “Innsbruck, ich muß dich lassen” in der reich ornamentierten Bearbeitung von Heinrich Ochsenkun läßt sie die schlichte von Elias Ammerbach antworten. Es gibt viel zu entdecken auf der CD mit weiteren Stücken von Hassler, Abraham van den Kerckhoven, Christian Ritter, Georg Böhm und sogar mit der Chaconne aus Lullys Oper “Phaeton” in einer Übertragung für Orgel von Johann Christian Bach und Choralsätzen aus Johann Sebastian Bachs Orgelbüchlein.
Lübking arbeitet wichtige Stimmen klar heraus und führt den Hörer sicher durch alle labyrinthische Kontrapunktik. Sie läßt in Dieterich Buxtehudes Trauermusik ganz zarte meditative Momente entstehen, die er dem Blasinstrument Orgel gar nicht zugetraut hätte, der Steuerfrau des Winddrucks jedoch schon. Mit der die CD beschließenden Pièce d´orgue BWV 572 hat der Virtuose und Experimentator Bach Mitwelt und Nachwelt in Staunen versetzt und die Organistin ihren Hörer auch.
Daß auf einer CD das spezifische Verhältnis von Orgel und Raum immer nur einigermaßen festgehalten werden kann, das ist keineswegs Interpretin und Produzenten anzulasten, sonderm dem heutigen Stand der Tontechnik geschuldet. Wer den Klang der Scherer-Orgel in dem Raum voll sich entfalten hören will, für den sie konzipiert worden ist, demselben und doch nicht demselben Raum, der muß sich nach Mölln in die St.Nicolai-Kirche bequemen, der muß zu Dagmar Lübking.
Jens Knorr // JF 17. Mai 2024
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Biographie
Biographie
Dagmar Lübking ist eine in ganz Europa gefragte Organistin. Ob beim Cantiere-Festival Montepulciano, an der Orgel der Kirche Sweelincks in Amsterdam oder im hohen Norden an den Orgeln der alten Hansestädte; immer wieder wird die Korrespondenz zwischen den Werken und den Instrumenten in ihrem Spiel gelobt.
Ihr bevorzugtes Repertoire erstreckt sich über drei Jahrhunderte, also von Werken des 16. Jahrhundert bis in die Frühklassik. Als klingende Zeugnisse ihres Spiels können CD-Produktionen an bedeutenden Orgeln gelten. So wurde z.B. ihre Aufnahme an ihrer Heimatorgel, gebaut von Jürgen Ahrend, mit Werken von Weckmann, Strungk, Tunder und Bach, von der Fachpresse mit folgenden Worten belohnt:
“Die vorliegende CD stellt schon ein kleines Wunder dar, dank des Instruments (…) und im Besonderen dank des hinreißenden Spiels von Dagmar Lübking.“ (Concerto 2005)
An einer der interessantesten Orgeln Nordeuropas – der Scherer-Bünting-Orgel zu Mölln – spielte Dagmar Lübking nach einer aufsehenerregenden Restaurierung durch die Firma Flentrop 2024 bei dem Label Es-Dur eine von der Kritik mit Begeisterung aufgenommene CD ein.
Als Continuospielerin an ihrer Truhenorgel arbeitet sie mit bedeutenden Musikern und Ensembles zusammen.
Schon als Studentin der Kirchenmusik in Frankfurt, anschließend als Schülerin von Michael Radulescu in Wien, später als Lehrende an der Kirchenmusikschule und der Musikhochschule Frankfurt am Main galt ihr Hauptinteresse den Fragen der Klangidentität eines Werkes in seinem historischen Umfeld, unterstützt durch das vorangegangene Studium der Musikwissenschaft und Altphilologie, welches den Blick für das Lesen aller Notationen schärfte.
Ihre enge Verbundenheit mit bedeutenden Orgelbauern unserer Zeit hat einen andauernden Dialog hervorgebracht, der ein Wechselspiel von Orgelbau und Idiomatik begünstigt.












