Charakterstarke norddeutsche Orgelpfeifen

Rezensionen

Daß sich Hamburgs Reichtum an hörenswerten Orgeln nicht auf die Hauptkirchen beschränkt, bestätigt ein kürzlich erschienenes Tondokument aus der evangelisch-reformierten Kirche in der Palmaille. 1969 von der Firma Ahrend und Brunzema erbaut  – Jürgen Ahrend empfing dieses Jahr den Buxtehude-Preis der Stadt Lübeck-, stehen Pfeifenwerk und Mechanik im Einklang mit der Tradition der “norddeutschen Orgelschule” des 17. und frühen 18. Jahrhunderts.

1998 wurde das Instrument zum künstlerischen Kraftwerk der Organistin und Cembalistin Dagmar Lübking. Dem Charakter der Orgel entsprechend wählte die Virtuosin, die unter anderem bei den Koryphäen Daniel Chorzempa in Basel und Michael Radulescu in Wien studierte, ihr CD-Repertoire – beginnend mit einem Praeludium und einer Canzona von Franz Tunder, dem Amtsvorgänger Dietrich Buxtehudes an der doppelt getürmten Kirche der Lübecker Kaufmannschaft, St. Marien.

Tunder war Trauzeuge des Hamburger Jacobi-Organisten Matthias Weckmann, den Dagmar Lübking anschließend mit zwei Orgelkompositionen vorstellt. Der Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz hatte seinen Chorknaben, als er in den Stimmbruch kam, stromabwärts nach Hamburg geschickt: in die Lehre des Petri-Organisten Jacob Praetorius aus der Schule des Amsterdamer “Organistenmachers” Jan Pieterszoon Sweelinck.

In der Hansestadt traf Weckmann auf einen zweiten Sweelinck-Schüler, den Catharinen-Organisten Heinrich Scheidemann – eine Begegnung, die den Hamburger Musikschriftsteller Johann Mattheson in seiner “Ehrenpforte” zu der Bemerkung hinriss, sie habe Weckmann “Anlass” gegeben, “die prätorianische Ernsthaftigkeit mit einer scheidemannschen Lieblichkeit zu mäßigen”.

Wie recht der Musikkritiker mit dieser Einschätzung hatte, führt Dagmar Lübkings Interpretation der “Toccata in d” und des Orgelchorals “Ach wir armen Sünder” von Matthias Weckmann bezwingend vor Ohren. Respekt vor der Meisterschaft der norddeutschen Orgelkomponisten jener Zeit lehrt auch ein “Magnificat noni toni” des Braunschweiger Marienorganisten Delphin Strungk.

Zu guter Letzt nimmt sich Dagmar Lübking – barocker Gepflogenheit folgend – die Freiheit, eine Violinsonate und eine Kantatenarie Johann Sebastians Bachs auf “ihre” Orgel zu übertragen. Wem sich bei diesem Gedanken die Nackenhaare sträuben, der höre erst einmal hin: Hauptwerk, Brustwerk und Pedal der Ahrend-Orgel bieten ideale Lebensbedingungen für Bachs generalbass-fundierte Kontrapunktik. Natürlich enthält die CD auch Orgelmusik von Bach pur: eine Toccata sowie Präludium und Fuge in d-Moll. Letztere modellierte Bach übrigens nach einer Geigen-Fuge.

DIE WELT, Freitag, 13.Juli 2007 // Lutz Lessle